Die Erstürmung des Roten Forts in Delhi war der dramatische Höhepunkt monatelanger Bauernproteste gegen Indiens neue Agrargesetze. Kann nachhaltigere Landwirtschaft die Existenznöte der Bauern lösen?

Seit ein paar Monaten hat Raja, ein Bauer im indischen Bundesstaat Tamil Nadu, eine neuen Programmpunkt in seinem Wochenplan. Alle paar Tage verlässt der 53-Jährige seinen 12 Hektar großen Hof im Bezirk Villupuram, wo er einen Mix aus Reis, Zuckerrohr, Kokospalmen und Gemüse anbaut, und schließt sich einer kleinen Gruppe an, die vor Regierungsbüros und Hauptstraßen in seinem Dorf demonstriert.

Raja (der nur diesen einen Namen trägt) ist einer von Millionen Menschen, die seit Monaten in den Dörfern und Städten Indiens gegen drei im September letzten Jahres eingeführte Landwirtschaftsgesetze protestieren. 

In Neu-Delhi, dem Brennpunkt des Aufstands, kam es zu eindrucksvollen Szenen mit Traktorkundgebungen und Sitzstreiks in den Außenbezirken, die vergangene Woche in Gewalt umschlugen und mit der Erstürmung des Roten Forts ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten. Die Regierung legte das Internet an den Protestorten lahm.

Die Regierung von Premierminister Narendra Modi hält daran fest, dass die Gesetzgebung, die weniger Regulierungen vorsieht und zu privaten Investitionen in den Landwirtschaftssektor einlädt,  dazu dient, das Wirtschaftswachstum zu fördern und die Einkommen der Landwirte zu erhöhen.  

Die Landwirte hingegen befürchten, dass sie durch die marktfreundlichen Reformen der Ausbeutung großer Unternehmen ausgeliefert werden und sehen ihre Lebensgrundlage gefährdet. „Wir sind gegen diese bauernfeindlichen, konzernfreundlichen Landwirtschaftsgesetze“, sagte Raja.  

Landwirtschaft in der Krise  

Landwirte und Aktivisten haben Sorge, dass die neue Gesetzgebung die bestehenden Spannungen im landwirtschaftlichen Sektor verschärft, wo das Wachstum seit sechs Jahren stagniert und die Verschuldung seit Jahrzehnten steigt. Dieser Druck, so wird vermutet, trieb bereits Tausende in den Selbstmord . 

„Es gibt so viel Unsicherheit“, sagt Raja, dessen Einkommen seit über einem Jahrzehnt nicht gestiegen ist. „Vor dem Software-Boom in den 90er Jahren verdiente ich genauso viel wie meine Freunde, die Ingenieure sind. Heute sieht das anders aus.“ Seit über 15 Jahren bekommt er pro 75-kg-Sack Roh-Reis rund 13 Dollar (10,70 Euro), was unter dem Mindeststützungspreis der Regierung liegt.  

Raja befürchtet, dass die neuen Gesetze, die die Preisgarantien für bestimmte Feldfrüchte schwächen, die Bauern noch angreifbarer machen. Die aktuellen Gesetze forcieren eine Landwirtschaft, in der Bauer rechtsverbindliche Verträge mit großen Konzernen und privaten Akteuren eingehen. Aktivisten befürchten nun ein ungleiches Machtverhältnis, da Ernteeinbußen und damit verbundene Lieferschwierigkeiten sogar den Verlust von Land bedeuten könnten.  

Zunächst schien es bei den monatelangen Protesten einen Durchbruch zu geben, als der Oberste Gerichtshof am 12. Januar entschied, das Gesetz vorübergehend auszusetzen. Aber das war nicht der Sieg, den sich viele erhofft hatten. 

„Die Bauernbewegungen sind gegen den Beschluss des Obersten Gerichtshofs“, sagt Ashlesha Khadse, Aktivistin und Freiwillige bei Mahila Kisan Adhikaar Manch, einer Vereinigung von Bäuerinnen. Das Gericht hat ein Komitee ernannt, das zwischen Protestierenden und Regierungsvertretern vermitteln soll, um die anhaltenden Auseinandersetzungen zu beenden. Khadse zufolge halten die Bauern die ernannten Mitglieder für Befürworter der Gesetze. Und sie würden weiter protestieren bis diese endgültig aufgehoben seien, sagt Khadse.

Die ökologischen Wurzeln der Krise  

Außerdem argumentiert sie, dass die Gesetze die Ursache der Probleme nicht angingen. „In den Gesetzen wird die Umwelt gar nicht erwähnt“, sagt Khadse. „Aber die heutige Krise der Landwirtschaft hat ökologische Wurzeln.“  

Sie führt die heutigen Probleme auf die Grüne Revolution der 60er Jahre zurück, bei der die Regierung den industriellen Anbau bestimmter Nutzpflanzen förderte und versuchte, die Produktivität mithilfe moderner Technologien zu maximieren. Indiens Nahrungsmittelvielfalt wurde  reduziert, weil nun verstärkt bestimmte Pflanzen, insbesondere ertragreiche Arten von Reis, Weizen und Hülsenfrüchten, angebaut wurden.

Durch den Anbau diese Saatgutsorten in Monokultur seien die Böden ausgelaugt worden, so Khadse. Und die Kosten für die Betriebsmittel, die benötigt werden, um weiter zu produzieren, hätten die Bauern in einen Kreislauf der Verschuldung getrieben.   

„Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität ist mit enormen Kosten für die Umwelt verbunden“, sagt Thomson Jacob, Politikberater am Centre for Biodiversity Policy and Law in Chennai. Dazu gehören laut Jacob der Nährstoffverlust der Böden, übermäßige Bewässerung, Wasserknappheit, die wahllose Anwendung von Düngemitteln und Pestiziden sowie der Verlust der Agrobiodiversität.  

Landwirte sehen sich heute nicht nur mit den Erblasten der Grünen Revolution konfrontiert, sondern auch mit den zusätzlichen Auswirkungen des Klimawandels, wie Dürren und Überschwemmungen. Mehr als 40 Prozent der indischen Arbeitskräfte sind im landwirtschaftlichen Sektor beschäftigt. Trotz der Grünen Revolution, bewirtschaften heute immer noch 82 Prozent der indischen Landwirte Flächen von weniger als zwei Hektar. 

Raja erzählt von den Ertragseinbußen seines Bauernhofs aufgrund des sich wandelnden und immer unberechenbarer werdenden Klimas. Ende November letzten Jahres wurden Teile seiner Ernte durch den Zyklon Nivar beschädigt. Untersuchungen zeigen, dass sich die Sturmaktivität im Golf von Bengalen, an dem Tamil Nadu liegt, aufgrund steigender Temperaturen rapide verstärkt hat.  

Weitere Anreize für Monokultur  

Karthik Gunasekar, ein Aktivist der Chennai Climate Action Group, glaubt, dass eine weitere Deregulierung des Marktes den Druck zur Ertragssteigerung erhöhen wird. „Diese neuen Gesetze werden eine nicht nachhaltige Landwirtschaft der Monokulturen vorantreiben „, sagt Gunasekar. Er fordert, die Gesetze sollten zurückgenommen werden. Stattdessen sollte eine Preisgarantie für eine vielfältigere Palette von Nutzpflanzen eingeführt werden, um so deren Anbau attraktiver zu machen. 

Wegen einer fehlenden Mindestpreisgarantie und aufgrund der schlechten Marktanbindung sind Indiens weniger ertragreiche, einheimische Nutzpflanzen im Laufe der Jahre immer seltener geworden. Wenn den Bauern jedoch Anreize für den Anbau traditioneller Saatgutsorten gegeben werden, so Jacob, könnte eine Förderung der Vertragslandwirtschaft (in der Bauern, Zulieferer und Abnehmer sich vertraglich binden) dazu beitragen, den durch die Grüne Revolution verursachten Niedergang umzukehren.  

„Wenn die Vertragslandwirtschaft ökologisch angebaute Produkte fördert, erhöht das die Agrobiodiversität“, sagt Jacob und weist darauf hin, dass traditionelle Reissorten und zertifizierte Bioprodukte auch gut exportiert werden könnten.

Raja blickt weniger optimistisch in die Zukunft. Er ist enttäuscht, dass die Regierung die Bauern der Gnade von Gerichten und Konzernen ausgeliefert hat, anstatt mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln. „Ich möchte nicht, dass meine Kinder diesen Beruf ergreifen, obwohl wir ihn seit Generationen ausüben“, sagt er. „Wir Bauern haben kein Vertrauen mehr in die Regierung.“ 

Quelle:
https://www.dw.com/de/hintergr%C3%BCnde-agrarkrise-in-indien-bauernproteste-agrargesetz-nachhaltigkeit-monokultur-agrarkonzerne/a-56402514