Seit rund einem Monat protestieren Tausende von Bauern vor Delhi, ihre Protestcamps sind kilometerlang. Viele stammen aus Punjab – eine Region rebelliert.

Um 7 Uhr 30 verlässt der Bus Baras. Es hängt ein kalter Winternebel über Punjab, der durch Decken und Ritzen kriecht. Der Bus fährt vom Dorfeingang durch die Allee, fünf Kilometer windet sich die Landstrasse zwischen den Weizenfeldern, bis sie an der Route Richtung Delhi endet. 66 Personen sitzen in dem Bus, der das Dorf an diesem Morgen Richtung Hauptstadt verlässt. Sie reisen, um zu rebellieren.

Ein paar Stunden später fährt Kuldeep Singh auf derselben Landstrasse. Auf seinem Schoss ein Verstärker und ein Mikrofon. Kuldeep Singh ist Bauer und Gewerkschafter, er erzählt vom Bus, seine Frau sass darin. Er ruft sie an, sie hat gerade keine Zeit zu reden, sie muss auf einer Bühne ihre Forderungen verkünden. Kuldeep Singh steckt das Handy ein. Wenig später wird der 40-Jährige an einer blockierten Tankstelle in der Nähe von Baras in sein Mikrofon schimpfen, den Widerstand ausrufen. Seine Frau ist nach Delhi gefahren, aber Kuldeep Singh ist geblieben, «meine Verantwortung liegt hier», sagt er. Jemand muss sich um diejenigen kümmern, die sich daheim auflehnen.

Seit rund einem Monat protestieren an Delhis Grenzen Tausende von Bauern. Sie blockieren mehrere Eingänge zu Indiens Hauptstadt, kilometerlang stauen sich auf den Autobahnen Traktoren und Anhänger, die zu Schlafwagen wurden. Die Bauern wollen nicht abziehen, bis die Regierung die neuen Agrargesetze rückgängig gemacht hat. Mehr als zwanzig Personen sind bereits gestorben, die Nächte sind jetzt harsch in Delhi. Die Protestierenden kommen aus Punjab, aber auch aus Haryana, Uttar Pradesh und anderen Gliedstaaten.

Um zu verstehen, wieso sie an der Grenze zu Delhi ausharren, muss man dorthin gehen, wo sie herkommen.

Mit dem Schwert am Gurt

Baras liegt etwa eine fünfstündige Autofahrt entfernt von Delhi, ein Dorf im Distrikt Patran, wie es in Punjab viele gibt. Rund 3000 Personen wohnen hier, die allermeisten leben von der Landwirtschaft, die allermeisten sind Sikhs. Es gibt eine Schule, einen grossen Sportplatz, auf dem am Wochenende auch die Bewohner aus den Nachbardörfern spielen, die Strassen sind mit Backsteinen gepflastert. Es gibt kleine Häuser, gänzlich unverputzt, es gibt Neubauten mit gläsernen Balkonen, ein besonders grosser hat die amerikanische Flagge in die Fassade eingearbeitet, weil der Besitzer dort sein Glück und das Geld für dieses Haus fand.

Wenn etwas Wichtiges passiert, tönt am Morgen eine Ankündigung aus den Lautsprechern eines der Gurdwaras, der beiden Sikh-Tempel. Über die Jats, die Bauern aus Punjab, hat der Autor Kushwant Singh einmal geschrieben: «Der Jat wurde als Arbeiter und Krieger geboren. Er pflügt sein Feld mit einem Schwert am Gurt.»

Beant Kaurs Wohnzimmerwände schmücken übergrosse Familienfotos, die Menschen darauf sind fast alle nach Delhi aufgebrochen: ihr Mann, ihr Enkel, später an diesem Tag reist ihr Sohn ab. Sie wollen sich in den Protestcamps wehren gegen die neuen Gesetze. «Meine grösste Sorge sind meine Enkelkinder», sagt Kaur. Sie habe ein gutes Leben gelebt auf diesem Land und sich ein schönes Haus gebaut. Jetzt sei sie etwa 70 Jahre alt und habe Angst, dass die Enkel das bisschen Wohlstand nicht erhalten könnten.

Als die Bauern Ende November nach Delhi marschierten, hat Beant Kaurs Mann Matratzen in seinen Anhänger gestopft und ist auf den Traktor gestiegen. Nun steht Kaur um 5 Uhr auf, melkt die Büffel und Kühe, füttert sie, macht dann Frühstück für die dagebliebenen Enkelkinder. Sie gräbt Wassergräben in die Felder, wie es ihr Mann normalerweise tut. Am Abend schaut sie jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben die Nachrichten. «Ich denke Tag und Nacht an diesen Protest», sagt sie. Wenn sie Hilfe brauche, dann kämen die Jungen des Dorfes vorbei und hülfen ihr. «Ich scheue die Arbeit nicht», sagt Kaur, «von mir aus kann jeder Mann auf unserem Hof nach Delhi fahren.»

Baras scheint gepackt von einem Geist des Protestes. Die Bauern erzählen, wie sie von Haus zu Haus gehen und einander ihre Hilfe anbieten, weil fast überall jemand fehlt wegen des Protestes. Eigentlich verlassen viele Junge ihre Dörfer in Punjab und emigrieren ins Ausland, nach Kanada, in die USA, nach Australien, weil sie daheim kaum Perspektiven sehen. Es scheint, als habe ihnen der Protest ein kurzfristiges Ziel gegeben: Baras’ Jugend protestiert nun oder unterstützt zu Hause die Alten.

Rund 250 Personen aus Baras waren bereits an Delhis Grenze. Einige seit Beginn der Proteste, manche fahren nur für ein paar Tage hin, sie bringen Durchhalteparolen von zu Hause und, viel wichtiger, Proviant und manchmal Geld, auch von den Verwandten im Ausland. Das Protestkomitee des Dorfes gibt Bescheid darüber, was an der Grenze benötigt wird.

Und der Protest ist grösser als Baras, eine Region scheint gerade zu rebellieren, an vielen Autos und Gebäuden hängen Fahnen, es gibt viele kleine Protestlager. Der Gewerkschafter Kuldeep Singh ist an der Tankstelle in der Nähe des Dorfes angekommen. Er nestelt mit den Kabeln seines Mikrofons. Die Tankstelle gehört zum Reliance-Konglomerat, dessen Besitzer Mukesh Ambani ist der reichste Mann Indiens. Die Bauern in Punjab glauben, die Agrarreform liefere sie solchen Magnaten aus.

An der Tankstelle protestieren rund siebzig Personen aus den umliegenden Dörfern, es sind diejenigen, die zu alt oder zu jung sind, um nach Delhi zu fahren, die meisten sind Grosseltern mit ihren Enkeln. Sie sitzen vor den Zapfsäulen, damit niemand tanken kann. Zapfsäule 1 und 2 für die Männer, 3 und 4 für die Frauen.

Landwirtschaft in der Krise

Die drei neuen Gesetze wurden im September beschlossen und sollen den starren indischen Landwirtschaftssektor deregulieren. Punjabs Landwirtschaft befindet sich schon lange in einer Krise, auch in Baras verschuldeten sich Kleinbauern so stark, bis sie den Suizid als einzigen Ausweg sahen. In Punjab werden fast nur Weizen und Reis angebaut. Das verspricht wenig Ertrag, und jedes Jahr wirft das beanspruchte Land weniger ab.

Für Weizen und Reis garantiert der Staat den Bauern einen Mindestpreis – die Bauern bringen ihre Ernte an einen regulierten Markt, ein Mittelsmann kauft sie ihnen ab. «In Punjab leben 97 Prozent der Bauern von diesem Mindestpreis», sagt Sukhpal Singh, er ist Professor für Agronomie in Ahmedabad. Die neuen Gesetze sollen Privaten Zugang zum Markt verschaffen und die Mittelsmänner entmachten. Die Bauern in Punjab fürchten, dass damit der Mindestpreis falle.

Indiens Landwirtschaftsminister schrieb in einem offenen Brief an die Bauern, der Mindestpreis werde niemals fallen, sie seien angelogen worden. Der Mindestpreis ist in den neuen Gesetzen allerdings nicht verankert, die Bauern in Punjab trauen dem Minister nicht. Der schrieb in seinem Brief auch, in vielen Regionen begrüssten die Bauern die neuen Gesetze.

In anderen Regionen Indiens ist der Mindestpreis weniger wichtig als in Punjab. Die Bauern verkaufen dort Produkte, die nicht so stark reguliert werden, weil sie keine Grundnahrungsmittel sind. Und sie verkaufen auch ausserhalb der staatlichen Märkte, die Mittelsmänner haben weniger Einfluss. In Punjab kassiert der Mittelsmann für seine Dienste Provision, aus Sicht der Regierung in Delhi ist er ein unnötiger Kostenfaktor. Die Sicht der Bauern ist eine andere, denn der Mittelsmann ist eine Art Bank für sie: Er gibt einen Vorschuss, wenn die Ernte schlecht war, er weiss Bescheid, wenn eine Hochzeit ansteht, und leiht dann Geld.

«Der Mittelsmann ist für uns Teil der Familie», sagt Hardeep Singh, 35, er ist wie die meisten in Baras ein Kleinbauer. Bis vor kurzem diente er in der Armee, siebzehn Jahre lang, jetzt zeigt er sein Land, das er mit seinem Bruder bewirtschaftet, und die eigene Wasserpumpe. Der Weizen schlägt aus, Anfang November, kurz vor den Protesten in Delhi, haben sie gesät. Vor Hardeep Singhs Haus steht wie vor den meisten in Baras ein Motorrad. Am Wochenende war er an der Grenze zu Delhi, jetzt ist er zurück, um die Felder zu wässern. Er fühlt sich nicht ernst genommen vom Ministerpräsidenten Narendra Modi: «Wenn Modi uns dazu zwingt, schlagen wir zurück.»

Regierung wirkt arrogant

Die neuen Agrargesetze berühren zwei sehr empfindliche Stellen im Leben der Bewohner von Baras: den Mindestpreis und den Stolz, Punjabi zu sein. «Zwei dieser drei neuen Gesetze sollen Aufgaben regeln, die bisher den Gliedstaaten überlassen wurden», sagt der Professor Sukhpal Singh. Er glaubt, die Regierung in Delhi hätte besser gewartet, bis Indiens Gliedstaaten selber den Landwirtschaftssektor deregulierten, einige hätten das schon getan. Nun sollte es aber der grosse Wurf sein, mitten in der Pandemie. «Die Regierung wirkt arrogant», sagt er.

An der Tankstelle in der Nähe von Baras funktioniert nun das Mikrofon. Die Parolen des Gewerkschafters Kuldeep Singh scheppern aus den Lautsprechern. Der Strom fürs Mikrofon liefert die Tankstelle. Davor stehen die Tankwarte in Uniform, sie haben seit Wochen nicht mehr gearbeitet, jeden Morgen hocken wieder Menschen vor ihren Zapfsäulen. Der Schichtleiter lächelt. Das sei schon recht so, sie seien alle Bauern hier, auch er werde irgendwann wieder einer sein. Vor ein paar Tagen sassen seine Eltern vor ihm an den Zapfsäulen, sie protestierten.

Quelle:
https://www.nzz.ch/international/indien-wo-die-protestierenden-bauern-herkommen-ld.1592449