Dieser aktuelle Generalstreik in Indien hat eine andere politische Dimension als vorherige: Seit einer Woche belagern Zehntausende Bauern und Landarbeiter die Hauptstadt Neu-Delhi mit Traktoren oder zu Fuß. Sie lähmen das tägliche Leben, um die Aufhebung von drei umstrittenen neuen Agrargesetzen zu fordern.

Die Zahl der Streikteilnehmer liegt landesweit angeblich bei über 200 Millionen. Es wäre demnach der größte Generalstreik der Menschheitsgeschichte.

BILD sprach mit mehreren der streikenden Bauern.

„Wir haben keine andere Wahl als zu kämpfen. Wir werden keinen Selbstmord begehen, sondern im Kampf Märtyrer werden“, sagt Dharampal Seel, Bauer aus der Stadt Patiala im Bundesstaat Punjab.

Die Landwirtschaft ist die Hauptgrundlage für den Lebensunterhalt von etwa 58 Prozent der 1,3 Milliarden Einwohner Indiens. Kritiker und viele kleine Bauern befürchten, dass von den neuen Gesetzen vor allem große private Unternehmen profitieren. Deswegen fordern die Demonstranten die Aufhebung der Gesetze.

„Wir weichen keinen Zentimeter zurück. Wir kämpfen für die Rettung unseres Lebensunterhalts und der Ernährungssicherheit Indiens. Der Profit der Unternehmen kann nicht den Vorrang vor Menschenleben haben“, sagt Vikram Singh, Gemeinsamer Sekretär von All India Agricultural Workers Union zu BILD. „Die Linien für unser Schlachtfeld sind gezogen, die zwei sich gegenüberstehenden Seiten sind sehr klar. Die Regierung muss entscheiden, auf welcher Seite sie steht: auf der Seite der Landwirte und Nation oder der Unternehmen.“

Die Demonstranten fordern außerdem einen Mindestlohn von 15 000 Rupien (circa 168 Euro) pro Monat und auch eine Grundzahlung von 7500 Rupien (circa 84 Euro) für Arbeitslose, eine Art allgemeine Sozialversicherung.

„Trotz acht Tagen Protest im kalten Winter und Unterdrückung der Proteste durch die Regierung wissen die Frauen, Männer und junge Bauern an der Grenze zu Delhi, dass es eine Frage von Leben und Tod ist, diesen Kampf für sie zu gewinnen“, sagt ein anderer Bauer, Badal Saroj, zu BILD. Die Bauern könnten ihr eigenes Leben, ihre Landwirtschaft und ihr Land nur retten, wenn sie ihren Kampf gegen drei Agrargesetze und das Elektrizitätsgesetz 2020 gewinnen.

Was sagen die umstrittenen Gesetze?

Diese Gesetze erleichtern es den Landwirten, staatlich regulierte Märkte zu umgehen und Produkte direkt an private Käufer zu verkaufen. Sie ermöglichen den Händlern auch, Lebensmittel zu lagern. Dies könnte es ihnen erleichtern, von steigenden Verkaufspreisen zu profitieren, beispielsweise während einer Pandemie, nachdem sie die Produkte Monate vorher günstig eingekauft haben. Solche Vorgehen waren nach den bisher geltenden Gesetzen Straftaten.

Die neuen Gesetze garantieren jedoch keinen Mindestpreis (MSP) für die Ernten, und die Landwirte befürchten, dass der bestehende MSP irgendwann abgeschafft wird.

Regierung will Verhandlungen mit den Bauern

Bauern stellen die größte Gruppe unter Wählern und sind eine Zielgruppe der regierenden hindu-nationalistischen Partei Bharatiya Janata Party (BJP). Premierminister Narendra Modi stimmt jetzt Verhandlungen mit den Gewerkschaftsdachverbänden zu. Am Donnerstag (3. Dezember) fand eine erste Besprechung statt. Am Samstag (5. Dezember) kommt es zu einem nächsten Treffen.

Dies sei das dritte Treffen in einer Woche, und die Landwirte betrachteten es als das letzte, so Vikram Singh zu BILD. „Keine Verhandlungen mehr. Die Demonstranten haben beschlossen, den Kampf zu intensivieren. Die Regierung muss sich jetzt entscheiden“, so Singh. „Morgen werden wir nicht streiten, sondern entscheiden“, sagte er am Tag vor dem Treffen am Samstag (5. Dezember).

Vor allem aus den nahe gelegenen Bundesstaaten Punjab, Haryana und Uttar Pradesh sind viele Landwirte in die Hauptstadt Neu-Delhi gekommen. Am Montag (30. November) ging die indische Polizei brutal gegen die Landwirte vor, um ihren Marsch anzuhalten.

„Unsere Regierung ist sehr unempfindlich, da sie unseren Schmerz nicht verstehen kann und uns gezwungen hat, die kalten Nächte unter freiem Himmel zu verbringen. Wir haben nur eine Forderung: dass wir ihre Gesetze nicht brauchen“, sagt Kamlesh Kadhyana, eine Bäuerin aus dem Nachbarbundesstaat Haryana, zu BILD.

Internationale Reaktion sei „ungerechtfertigt“

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau äußerte Besorgnis über die Proteste: „Kanada wird immer da sein, um das Recht auf friedlichen Protest zu verteidigen“, sagte er am Montag.

Indien reagierte gereizt auf diese Aussagen: „Wir haben einige schlecht informierte Kommentare kanadischer Staats- und Regierungschefs zu Landwirten in Indien gesehen“, erklärte der Sprecher des indischen Außenministeriums (MEA), Anurag Srivastava, am Dienstag. Solche Kommentare seien nicht gerechtfertigt, insbesondere wenn es um die inneren Angelegenheiten eines demokratischen Landes gehe.

Doch immer mehr Bauern sind auf dem Weg nach Neu-Delhi. Die Regierung des Hindu-Hardliners Narendra Modi steht vor einer großen Herausforderung. Sie stand schon vergangenes Jahr ähnlich unter Druck, als sie ein Einbürgerungsgesetz erlassen hatte, das von vielen als anti-muslimisch und diskriminierend angesehen wurde. Aber: Dieses Mal geht es nicht nur um die muslimische Minderheit im Land, sondern um wütende Bauern – mit 58 Prozent mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Außerdem ist Neu-Delhi ein Corona-Hotspot mit bereits mehr als 9,4 Millionen gemeldeten Fällen.